Nicole Besse
Ein Zitat, das mir während der insgesamt 112-stündigen Velotour von St. Antönien nach Istanbul immer wieder durch den Kopf ging. Ein klares Ziel vor sich zu haben im Wissen, dass man alle Voraussetzungen mitbringt, um es erreichen zu können. Sich dazwischen aber voll und ganz allen möglichen Herausforderung, die unterwegs auf einem zukommen, hinzugeben, sich den Umständen anzupassen, Ideen zu entfalten und Lösungen zu finden, um immer weiter zu kommen. Das ist ein Ankommen im Moment. Das Reisen mit dem Velo ermöglicht einem das Erleben von Achtsamkeit, wie es einem im Alltag nur schwer gelingt. Sich einfach nur darauf zu konzentrieren wie man die bevorstehende Tagesetappe umsetzt. Bewusst wahrzunehmen, was um einen herum passiert und wie sich der eigene Körper dabei fühlt, um entsprechende darauf reagieren zu können. Die Aufmerksamkeit und daraus folgenden Gedankengänge sind auf das Hier und Jetzt gerichtet und lassen wenig Raum und Zeit, um über unbeantwortet Emails oder Ähnliches nachzudenken. Keine Rücksicht zu nehmen auf das Wetter, den Wochentag oder die Tageszeit, sondern einfach immer weitergehen, komme was wolle. Keine Gedanken darüber zu machen, was man anziehen will oder wie man aussieht, sondern einfach das zu nutzen, was man dabei hat. Das ist ein befreiendes Gefühl, das ein Ankommen schon zu Beginn der Reise ermöglicht.
In einem Blog über Bikepacker, die zum Teil mehrere Jahre unterwegs sind, wird übereistimmend beschrieben, dass die Rückkehr nach Hause und das Wiedereinleben in die durchgeplante Gesellschaft, das Schwierigste sei an der gesamten Tour. Nach nur drei Wochen besteht diese Gefahr einer erschwerten Reintegration in unser gesellschaftliches Denken bei Daniel und mir nicht. Aber es war eine vollkommen gelungene Auszeit!
2‘714 Kilometer und 30‘639 Höhenmeter haben wir, über 18 Etappen verteilt, zurückgelegt. Dabei haben wir 10 verschiedenen Länder in kürzeren oder längeren Abschnitten durchreist und dabei unterschiedliche Erfahrungen gemacht, welche wir in diesem Bericht etwas genauer analysieren wollen. Fragen, die wir uns schon während der Planung der Reise gestellt haben, betrafen vor allem den Zustand der Strassen und was die optimale Zusammensetzung des Materials sein könnte. Auch haben wir uns intensiv mit der potentiellen Bedrohung von freilaufenden Hunden auseinandergesetzt, nach dem eine sichere Quelle uns auf diese Gefahr hingewiesen hat (F. Probst, Sep. 2022).
Im Verlaufe der Reise haben wir viel darüber diskutiert, wie die Leute in den entsprechenden Ländern auf uns reagiert haben, wie sie sich im Verkehr verhalten haben und wie der Rennradsport in der Kultur verbreitet ist.
Ausserdem ist eine solche Reise eine ständige Auseinandersetzung mit seinem Reisepartner und sich selbst. Was dabei von Vorteil ist und wo man sich gegenseitig auf die Nerven gehen kann, haben wir am eigenen Leib erfahren.
All diese Fragen versuchen wir in einer überschaubaren Analyse nachzugehen. Da Daniel eher der Analytiker und ich mehr die Geschichtenerzählerin bin, mache ich die Analysen und er berichtet im Verlauf die Anekdoten dazu. Es soll ja nicht in die Extremen ausufern.
Mit der Testversion der kostenpflichtigen Strava Applikation haben wir unseren Startpunkt und unser Reiseziel miteinander verbunden und die Strecke nach „geteerten Strassen“ und „beliebtesten Rennradstrecken“ gefiltert. Dabei ist eine Route entstanden, die wir uns als groben Plan vorgenommen hatten. Unterwegs haben wir die einzelnen Etappen je nach Zustand und Motivation angepasst. Die Streckenführung ist dabei scheinbar so einfach, dass wir die exakte Route nur für drei spezifische Etappen auf den Garmin Computer geladen haben. Dazu muss aber gesagt werden, dass Daniel einen ausgeprägten Orientierungssinn hat. Ich wäre wahrscheinlich schon kurz nach St. Antönien falsch abgebogen.
Während gesamter Zeit: Daniel; Ehemann
Während 2 Stunden: Elly; Bikepackerin aus Luxemburg
Entsprechend der Routenplanung haben wir uns jeweils ein Etappenziel gesetzt, in dem wir eine Unterkunft gesucht haben. Teilweise haben wir diese schon am Vortag über Booking.com reserviert und manchmal sind wir einfach irgendwo reinspaziert und haben nach einem Zimmer gefragt.
Bei längeren Etappen (≥150 km) gilt bei uns die „Drittel-Regel“. Nach dem ersten Drittel gibt es eine Kaffee Pause, die je nach Energie-Level mit einer Cola ergänzt wird. Sogar ich habe meine 31 Jahre lange Ablehnung von Cola abgelegt und sie zwischendurch in vollen Zügen genossen. Nach dem zweiten Drittel nehmen wir eine feste Mittagsmahlzeit zu uns und gehen den letzten Drittel an. Es ist schon länger bekannt, dass ich mich im ersten Drittel am schwersten tue, um in die Gänge zu kommen und dann langsam immer zügiger werde und Daniel hingegen im letzten Drittel am meisten Motivationsschwierigkeiten hat. Meiner Meinung nach eine perfekte Ergänzung. Daniel fügt hinzu, dass es eigentlich schade ist, da wir nur einen Drittel gemeinsam geniessen können, Ansichtssache. Das Frühstück und Abendessen erklärt sich von selbst, wobei die Mengen, die wir an einer Mahlzeit zu uns nehmen können in allen Kulturen immer wieder zu überraschten Blicken führt. Eine hohe Flexibilität im Essen wird vorausgesetzt, weil man oft weder den Bildern, noch dem Geschriebenen auf der Menükarte entnehmen kann, was es beinhaltet. Und selbst wenn man denkt, dass man verstanden hat, was einem serviert wird, kann sich auf dem Teller nochmals etwas ganz Anderes befinden. Für Vegetarier muss die Herausforderung noch weit grösser sein, da Fleisch im Balkan offensichtlich als Hauptnahrungsmittel verwendet wird.
Ein besonderes Highlight dieser Veloreise waren die leckeren Dörrfrüchte, welche an jedem Strassenstand erhältlich sind und sich als schneller Energielieferant sehr gut eignen.
In der untenstehenden Tabelle (1) haben wir die Anzahl Verwendungen unserer einzelnen Materialstücke aufgelistet. Den grössten Teil des Materials haben wir täglich verwendet. In der Tabelle aufgeführt haben wir alles Material, das wir nicht täglich verwendet haben.
Verwendungszeit | Material |
---|---|
An 16/18 Tagen | Veloschloss mit Drahtseilverlängerung |
An 10/18 Tagen | Notizbuch, E-Reader |
An 4/18 Tagen | Regenjacke, Gilet, Velolämpchen, Tool-Set |
An 3/18 Tagen | Überschuhe, Kettenöl |
An 2/18 Tagen | Bikini, Medikation (1x Ibuprofen, 1x Immodium) |
Einmalig | Flickzeug, Schlauch, Beinlinge und Handschuhe (während insgesamt 30 Minuten) |
Gar nicht | Pfefferspray, Ersatzbremsen, Ersatzkettenglied, 2x Ersatzschlauch, FFP-2 Maske, Ersatzhaargummi |
Unterwegs besorgt | Nagelknipser |
Gefehlt | Presta-to-Schrader Ventil Adapter |
Tabelle 1: Nicht täglich verwendetes Material.
In Tabelle (2) haben wir die einzelnen Streckenabschnitte in den unterschiedlichen Ländern nach folgenden Kriterien bewertet: Strassenzustand; Gastfreundlichkeit; Sicherheit im Verkehr; Sicherheit trotz Hunden und Verbreitung des Rennradsportes in der Gegend.
Diese Bewertung bezieht sich ausschliesslich auf den, von uns gefahren Streckenabschnitt und kann nicht auf das ganze Land übertragen werden. Auch muss dazu gesagt werden, dass die zeitliche Aufenthaltsdauer in den einzelnen Ländern zwischen 3 Tagen und 4 Stunden variierte. Insbesondere in Slowenien und Bosnien waren die Streckenabschnitte so kurz, dass sie im Vergleich zu den anderen kaum repräsentativ sind. Der vollständigkeitshalber haben wir sie aber in die Analysen miteinbezogen. In Bezug auf die Gastfreundschaft in Albanien divergierte die Bewertung von Daniel und mir deutlich, was wahrscheinlich unter anderem mit einer unterschiedlichen Auffassung von Gastfreundlichkeit zu begründen ist. Eine genauere Erläuterung dazu folgt in der Diskussion.
Land | Strassenzustand | Gastfreundlichkeit | Rücksichtnahme im Verkehr | Sicherheit trotz Hunden | Gesichtete Rennvelofahrer |
---|---|---|---|---|---|
Italien | +++ | + | ++ | +++ | 107 |
Slowenien | ++ | +++ | ++ | +++ | 9 |
Kroatien | +++ | + | ++ | +++ | 12 |
Bosnien | +++ | +++ | ++ | +++ | 0 |
Montenegro | +++ | ++ | + | +++ | 7 |
Albanien | + | +++1 | + | +++2 | 2 |
Mazedonien | +++ | + | + | +++ | 4 |
Bulgarien | ++ | ++ | + | ++ | 1 |
Griechenland | ++ | ++ | ++ | ++ | 1 |
Türkei | ++ | +++ | + | + | 4 |
Tabelle 2: Landbewertung. + ausreichend, ++ gut, +++ sehr gut. 1 fehlende übereinstimmung in der Bewertung. 2 genauere Erläuterung schriftlich in den Resultaten und Diskussion.
In der Bewertung der Sicherheit trotz Hunden wurden mehrere mögliche Gefahren, ausgehend von einem Hund bewertet. So gab es beispielsweise in Albanien und Nord-Mazedonien ausserordentlich viele streunende Hunde, die sich herzlich wenig für Velofahrer interessierten und sich nicht danach umschauten, was schon fast wieder ein Risiko darstellte. In Bulgarien hingegen, kaum hatten wir die Grenze überradelt, kläffte uns von jedem Zaun ein aggressives Zähnefletschen und Gebelle entgegen, so dass der Hintere von uns beiden nur hoffen konnte, dass das Gartentor richtig abgeschlossen wurde. Vereinzelt kam es vor, dass ein Hund ein Schlupfloch gefunden hatte und mit Höchstgeschwindigkeit auf mich zu rannte, dann aber aufgrund von herbeifahrenden Autos entschleunigen musste und ich somit die Gelegenheit bekommen hatte, meine Beine in die Pedalen zu treten, um wegzukommen. Wie gefährlich die Situation gewesen wäre, wenn kein Auto aufgetaucht wäre, ist schwierig zu beurteilen. Meine Beine waren jedenfalls weich wie Pudding und das obwohl ich in meiner Angst, gefühlt, 500 Watt gedrückt hatte.
Erst in der Türkei war es so, dass auch streunende Hunde ein aggressives Verhalten uns Velofahren gegenüber zeigten. Noch aggressiver als die Hunde waren allerdings die Autofahrer, so dass die Hunde vor der Strasse grossen Respekt hatten. Die Tatsache, dass am Strassenrand viele Hunde lauern, bringt manche Autofahrer dazu, etwas mehr Abstand zu halten. Wir auf unseren Velos Am Rande der Strasse befanden uns somit in der Mitte von zwei Gefahren, die sich Gegenseitig wieder etwas aufhebten.
Die Ausrüstung, die wir für unsere Velotour ausgesuchten hatten, deckte ziemlich genau unsere Bedürfnisse ab. Nur ganz wenige Dinge hatten wir überhaupt nicht verwendet und gar nichts hat uns gänzlich gefehlt für ein Weiterkommen auf unserer Reise. Somit können wir sagen, dass wir mit unserer Vollmontur, die zwischen 15-20 Kg (inkl. Velo) lag, sehr effizient unterwegs waren. Dies ermöglichte uns, längere und steilere Etappen in unsere Route einzuplanen und machte uns flexibel. Um noch effizienter zu werden, müssten wir gemäss unserer Analyse beim nächsten Mal ein Teil unserer Flickutensilien zu Hause lassen, was aber sicherlich nicht sinnvoll wäre. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir die ganzen 18 Etappen mit so wenig technischen Problemen und Pannen überstanden haben. Geholfen hat wahrscheinlich, dass mich Daniel mehrfach ermahnt hat, besser aufzupassen, wo ich drüberfahre.
Persönlich würde ich beim nächsten Mal die Beinlinge und sicherlich die Handschuhe nicht mehr mitnehmen. Aber auch dazu muss gesagt werden, dass wir in Bezug auf Wetter und Temperaturen eine angenehme Reise hatten. An 4 Tagen wurden wir tatsächlich nass, was aber aufgrund der warmen Temperaturen keine Rolle spielte.
Was wir bei einem nächsten Mal sicher mitnehmen würden, da es kaum Gewicht hat und das Pumpen der Pneus vereinfachen würde, ist ein Presta to Shrader Ventil Adapter. Auch würde ich Daniel beim nächsten Mal empfehlen, Bikeschuhe mitzunehmen, da es doch immer wieder zu kurzen Laufpassagen kommt, gerade innerhalb von Städten. Auf die FFP-2 Masken können wir in Zukunft hoffentlich alle verzichten und auch einen Pfefferspray würden wir eher nicht mehr mitnehmen, vor Allem, da uns die Entleerung dessen vor dem Abflug noch vor eine kleine Herausforderung stellte.
Die Beurteilung unserer Routenwahl ist grösstenteils unserer Tabelle zu entnehmen. Zu den Strassen gibt es nicht viel zu sagen. Abgesehen von einem ca. 30 km Abschnitt in den Bergen von Albanien, waren die Strassen in einem guten Zustand.
Die Verkehrsregeln sind vermutlich in der Theorie, über die gesamte Strecke hinweg, die gleichen. In der praktischen Umsetzung haben wir ab Montenegro eine Veränderung wahrgenommen. Insbesondere in Albanien und Bulgarien aber auch in der Türkei war es eine Voraussetzung, Blickkontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern herzustellen. Aber auch das allein reichte häufig nicht aus, sondern es erforderte eine spezifische Blicktechnik, um sich im Verkehr durchzusetzen. Zum Beispiel: Wenn ich in Zürich auf einer Hauptstrasse fahre, kann ich mich darauf verlassen, dass der Autofahrer, der auf meine Strasse einspuren will, mir den Vortritt lässt. Wenn ich in Kroatien auf der Hauptsrasse fahre und mit Blickkontakt sichergestellt habe, dass der einspurende Autofahrer mich gesehen hat, lässt er mir den Vortritt. Weiter südlich erfordert der Blickkontakt ein zusätzliches Signal, das bestimmt: „ich fahre jetzt und nicht du!“ Gemäss Erzählungen meiner Geschwister habe ich mich schon als Kind in meiner Blicktechnik geübt, um zu bekommen was ich will. Vondaher war es für mich nach einer Angewöhnung an dieses Verfahren kein Problem mehr. Auch Daniel hat mit der Zeit Gefallen daran gefunden, dass Regeln im Verkehr nicht so exakt umgesetzt werden und einem dadurch etwas mehr Spielraum gelassen wird. Es gab nichts, was uns Velofahrern nicht toleriert wurde. Selbst das Befahren der Autobahn in Griechenland stellte kein Problem dar und schien niemanden zu irritieren. In den drei Wochen auf der Strasse, habe ich die Dynamik im Verkehr immer als ein Miteinander und nicht Gegeneinander empfunden. Ohne diese dreiwöchige Anpassungsphase an das Verkehrsgeschehen wäre mir die Einfahrt auf den 6-spurigen Schnellstrassen ins Stadtzentrum von Istanbul allerdings sicherlich nicht gelungen. Was da abgeht, kann man nicht in Worte fassen. Ich kann nur sagen, dass mein Adrenalin wahrscheinlich nur beim Fallschirmspringen ähnlich hoch war. Jedem, der nicht zu stolz ist, seine Veloreise 40 km vor dem Stadtzentrum Istanbuls abzuschliessen, kann auf diese Erfahrung sicherlich verzichten.
Was die Menschen neben den Strassen anbetrifft, so haben wir auf unserer gesamten Reise sehr viel Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Interesse erfahren. Insbesondere in Albanien wurden wir direkt nach Überfahrt der Grenze von den Leuten in ihren Gärten und auf der Strasse freundlich begrüsst. Keine Hand blieb unten, jeder winkte uns zu. Im Osten Albaniens grenzte diese Herzlichkeit und Fürsorge beinahe an Übergriffigkeit, weswegen unsere Beurteilung von Daniel und mir hier etwas differierte. Während ich Gefallen daran gefunden hatte, dass wir in Bulqize stürmisch begrüsst wurden, als wären wir die ersten Touristen, die den Weg dorthin gefunden haben, war es für Daniel unangenehm, dass sie alles für und über uns bestimmen wollten. Vor Allem als ein Einwohner angeboten hatte, über Nacht auf unsere Velos aufzupassen und diese in seine Garage mitnehmen wollte, war bei Daniel die Geduld zu Ende. Was wir bei den Bewohnern auslösten war eine Gradwanderung zwischen Stolz und Kränkung.
Schwierig vorzustellen, wie wir die Situation mit den Hunden auf unserer Reise wahrgenommen hätten, wenn wir nicht die Informationen unserer sicheren Quelle diesbezüglich gehabt hätten. Intensiv haben wir uns überlegt, wie wir uns verhalten sollten, wenn ein Hund uns anspringt oder gar versucht zu schnappen. Mit hoher Alarmbereitschaft sind wir durch unbefahren Quartiere gefahren, da dort unser Schutz durch Autos fehlte. Manchmal war ich so beunruhigt, dass ich mir sogar eingebildet hatte, ein Hundebellen gehört zu haben. Letztendlich haben wir keine einzige negative Erfahrung mit Hunden gemacht. Auch hier kann es sein, dass wir einfach Glück hatten – das wissen wir nicht. Genauso wenig wissen wir bis heute, ob Pfefferspray eine gute Wehrmethode gegen aggressive Hunde gewesen wäre oder es die Situation für uns sogar noch gefährlicher machen würde.
Wenn man aus der effektiven Gefahr vor Hunden auf die Anzahl Rennvelofahrer schliessen könnte, müsste man klar sagen, dass ab Slowenien die Gefahr drastisch ansteigt. Und dann in der Türkei wieder etwas abnimmt, denn dort sind wir sogar von einem TT-Velo auf der Hauptsrasse überholt worden. Wahrscheinlich aber gibt es viele verschiedene Gründe, weshalb wir auf unserer gesamten Reise im Balkan so wenig Rennvelofahrer angetroffen haben. Allgemein haben wir nur wenige Bikepacker angetroffen, was vielleicht gar nicht schlecht war. Von Elly haben wir den Rat erhalten, uns von Langzeit-Bikepackern fern zu halten, da diese jegliche Verbindung zur Gesellschaft verloren hätten und oftmals mehr Verbitterung als Freude an den Tag legen würden. Auch haben wir von ihr erfahren, dass es kein Problem sei, als Frau alleine mit dem Velo unterwegs zu sein im Balkan.
Ich bin allerdings froh, dass wir diese Reise gemeinsam angetreten sind. Auch wenn Daniel nicht mein Lieblingsmensch wäre, wäre er mein liebster Reisebegleiter auf solch einer Tour. Sehr bezeichnend für ihn ist die Tatsache, dass er zuerst hinter mir zurückschaut, bevor er mir signalisiert, wie ich mich verhalten soll, bei dem was vor uns auf der Strasse liegt. Somit schaut er für mich nach vorne und gleichzeitig nach hinten. Er antizipiert mein Verhalten auf dem Velo und reagiert entsprechend. Umgekehrt habe ich es ihm mit meinen, teilweise reflexartigen Handlungen, wie zum Beispiel abruptes Abbremsen im plötzlich stock dunklen Tunnel, nicht immer einfach gemacht.
Abgesehen vom Verhalten beim Fahren hintereinander ist es auf so einer Reise von grossem Vorteil, wenn man sich in Bezug auf einige Grundbedürfnisse ähnlich ist. Es hilft, wenn man ähnliche Essgewohnheiten hat, ähnliches Temperaturempfinden, ähnlich viel Energie und Tatendrang, ein ähnliches Sauberkeitsbedürfnis und einen ähnlichen Tag/Nacht-Rhythmus hat. Obwohl Daniel sich beim Schlafen eigentlich nie stören lässt auch wenn ich die halben Nächte durchlese.
Allgemein sollte bei der Kommunikation berücksichtigt werden, dass der Fahrtwind die akustische Verständigung erschwert und dass der Zuckerspiegel einen wesentlichen Einfluss darauf nimmt, wie aufnahmefähig wir sind. Geduld bewahren und Dinge mit Humor zu nehmen scheinen so wichtig wie hilfreich zu sein. Eine Konversation, die mir dazu einfällt, ist folgendermassen abgelaufen:
Daniel: „Einer, der mit mir arbei.....(Fahrtwindrauschen) Bulgarien.“
Nicole: „Was!?“
Daniel: „Einer, der mit mi....(Fahrtwindrauschen) ...garien!!“
Nicole: „Nicht verstanden!!!“
Daniel (fährt jetzt ganz langsam neben mir her, kein Fahrtwindrauschen): „Einer, der mit mir arbeitet, kommt aus Bulgarien!“
Nicole: „Ok, aber woher kommt er?“
Daniel: „Hörst du mir überhaupt zu??!!“
Nicole: „Ich bin unterzuckert, geh weg!“ (Denkpause) „Aber nicht zu weit weg!!“
Daniel (lacht) (zum Glück! Er versteht mich)
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass für unserer Veloreise von St. Antönien nach Istanbul alle Vorbereitungen gepasst haben und wir eine geeignete und sichere Route gewählt haben. Natürlich könnte diese in vielerlei Hinsicht variiert und umgestaltet werden. Was dabei aber ähnlich bleiben würde, wäre die Ankunft in Istanbul. Durch das etappenweise Fortschreiten durch verschiedene Länder und Kulturen, haben wir uns unbewusst sozial akklimatisiert. Als wir in Istanbul angekommen sind, konnten wir das lebendige Treiben in der Stadt, von Beginn an geniessen. Wir waren völlig offen, lernten schnell Einheimische kennen und lebten uns intensiver in die magische Welt der ottomanischen Kultur ein, als wir uns das hätten vorstellen können. Ein unerwarteter Effekt, der als Belohnung für eine solche Tour, schöner nicht sein könnte. Man könnte sagen, dass die Ankunft in Istanbul zwar das Ende unserer Reise war, aber das Ankommen hat schon viel früher stattgefunden.
Probst, F. (2022): +41 076 487 67890.